Rede

Großbritannien und Deutschland – Partner bei der Reform der EU

Rede des britischen Außenministers, William Hague, bei der 63. Königswinter-Konferenz am 31. Mai 2013 in Neuhardenberg bei Berlin

Veröffentlicht wurde dies unter der 2010 to 2015 Conservative and Liberal Democrat coalition government
Foreign Secretary William Hague

Meine Damen und Herren,

ich freue mich, zur 63. Königswinter-Konferenz hier zu sein.

Ich möchte heute Nachmittag über Reformen sprechen: warum wir sie brauchen und was Deutschland und Großbritannien tun können, damit die Europäische Union wettbewerbsfähiger, flexibler und demokratischer wird.

Es ist ein passender Ort. Wie Sie wissen, war dieses Schloss ein Geschenk von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen an seinen Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg zum Dank für seine reformerischen Leistungen, wozu auch die Abschaffung verschiedener handels- und wettbewerbsbeschränkender Praktiken gehörte.

Hardenberg hätte, als Angehöriger des Hannoverschen Staatsdienstes und später der preußischen Regierung, diese Konferenz und die enge Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Deutschland sicherlich begrüßt.

Wenn ich an meinen Besuch in Berlin im vergangenen Oktober zurückdenke, fällt mir auf, wie sehr unsere Beziehungen selbst in dieser kurzen Zeit gewachsen sind –was zum Teil auch den hier Anwesenden zu verdanken ist.

Es sind Beziehungen, bei denen wir voneinander lernen.

Iain Duncan Smith, unser Minister für Arbeit und Renten, war Anfang des Monats in Berlin, um zu erfahren, wie es Deutschland gelungen ist, die Arbeitslosigkeit auf 5,5 Prozent zu drücken – den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung – und das, obwohl sich die Eurozone immer noch in der Rezession befindet.

Lord Green, unser Staatsminister für Handel und Investitionen, war diese Woche hier, um an seinen Besuch Ende letzten Jahres anzuknüpfen, bei dem er sich über Deutschlands Exporterfolge informiert hatte.

Umgekehrt geben auch wir unsere Erfahrungen weiter. Nächste Woche kommt eine Delegation aus dem Kabinettsamt nach Berlin, um zu erläutern, wie wir ein besseres Verständnis der Psyche unserer Bürger in den politischen Entscheidungsprozess einbinden.

Auch in der EU ist unsere Partnerschaft auf Erfolgskurs, in jüngster Zeit:

  • Beim EU-Haushalt, wo Bundeskanzlerin Merkel und Premierminister Cameron deutlich gemacht haben, dass es einfach nicht richtig ist, wenn die EU mehr Geld ausgibt, während die nationalen Regierungen in ganz Europa sparen müssen. Gemeinsam mit anderen Partnern haben wir erstmals eine Kürzung des Haushalts der EU durchgesetzt. Das war nicht nur im Interesse unserer Steuerzahler, sondern die EU konnte so auch zeigen, dass die Ausgaben der EU der gleichen Haushaltsdisziplin unterworfen werden wie die die Ausgaben der Nationalstaaten.

  • Bei der ersten Stufe der Bankenunion, einem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus, wo wir eine Vereinbarung getroffen haben, die die Rechte der Euroländer wie der Nicht-Euroländer respektiert und den Binnenmarkt, das Fundament der Europäischen Union, schützt.

  • Und in Bezug auf eine bessere Regulierung, wo die Bundeskanzlerin und der Premierminister eine Zusage durchgesetzt haben, unnötige Regulierung abzubauen, damit die Wirtschaft florieren kann – vor allem kleine und mittlere Betriebe und der deutsche Mittelstand.

Auch bei der Förderung des freien Handels arbeiten wir eng zusammen, worauf ich später noch eingehen werde.

In allen diesen Fällen haben wir den Bürgern in Großbritannien, Deutschland und ganz Europa gezeigt, dass wir dabei, Europa zu verbessern und zu reformieren, vorankommen können.

Dennoch steht Europa immer noch vor gewaltigen Herausforderungen. Ich möchte nur drei nennen: erstens, wie behaupten wir uns im immer stärkeren globalen Wettbewerb. Zweitens, wie beseitigen wir den Mangel an demokratischer Verantwortlichkeit in der EU. Und drittens, wie sorgen wir dafür, dass die EU so flexibel wird, dass sie die Vielfalt ihrer Mitgliedstaaten respektieren kann.

Während die europäische Wirtschaft in den letzten fünf Jahren stagniert hat, ist die chinesische um durchschnittlich 9,3 Prozent pro Jahr und die indische um durchschnittlich 6,6 Prozent gewachsen. Einigen Prognosen zufolge könnte sich Europas Anteil am nominalen globalen BIP bis 2030 halbieren, während die Schwellenländer weiter vorpreschen.

Teil des Problems, mit dem wir es hier in Europa zu tun haben, ist natürlich die Krise in der Eurozone. Aber wenn wir ehrlich sind, liegen die Probleme der europäischen Wirtschaft tiefer. Die Krise hat die grundlegenden strukturellen Probleme, die seit Jahrzehnten schwelen, nur an die Oberfläche gebracht.

Hier im Herzen Preußens muss ich als Historiker natürlich auch Bismarck erwähnen. Als er 1889 die erste Altersrente der Welt einführte – für Arbeiter, die das 70. Lebensjahr erreichten – lag die durchschnittliche Lebenswartung irgendwo zwischen 40 und 45. Heute liegt sie in Europa im Schnitt bei 80.

Das ist auf Dauer nicht tragfähig. Wie Bundeskanzlerin Merkel deutlich gemacht hat, steht Europa für 7 Prozent der Weltbevölkerung, 25 Prozent der Wirtschaftsleistung und – kaum zu glauben – 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben.

Deutschland hat eine Vorreiterrolle dabei gespielt, diese Herausforderungen in den Griff zu bekommen, und zwar durch eine Reihe von schmerzhaften, aber beachtlichen Arbeitsmarktreformen sowie durch eine Haushaltskonsolidierung.

Auch andere haben gezeigt, was möglich ist. In Litauen hat die Regierung die Löhne im öffentlichen Sektor von 2008 bis 2010 um über 17 Prozent gesenkt. Die irische Regierung hat sich mit den Gewerkschaften – historisch einmal – darauf geeinigt, von 2008 bis 2012 28.000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen. In Portugal wurden die Ausgaben für Gehälter im öffentlichen Sektor von 2010 bis 2012 um fast 23 Prozent gekürzt.

In Großbritannien hat unsere Regierung das Defizit im Lauf von drei Jahren um ein Drittel reduziert. Der private Sektor hat eineinviertel Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Die Beschäftigung hat Rekordhöhe erreicht und ihren Höchststand von vor der Krise noch übertroffen, obwohl wir mehr als 600.000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut haben. Wir sind jetzt dabei, die Wirtschaft in Richtung hochwertiger Fertigungsindustrie und Exporthandel umzustrukturieren.

Es reicht allerdings nicht, unsere Finanzen und Sozialmodelle in Schuss zu bringen. Wir müssen auch das richtige Regelungsumfeld für Wirtschaftswachstum schaffen.

Die großen deutschen und britischen Hersteller haben die Chancen, die ihnen die Märkte der Schwellenländer bieten, längst erkannt. Wir exportieren BMWs made in Bayern (wovon jeder vierte mit einem Motor made in Britain ausgerüstet ist) und hoch moderne Flugzeugkomponenten, die in Bristol und Bremen konstruiert werden. Aber wir müssen uns auch überlegen, wie es weitergeht, welche Möglichkeiten es gibt, auch Produkte unserer wissensintensiven Branchen und Unternehmensdienstleistungen zu exportieren.

Prognosen zufolge wird die Mittelklasse weltweit bis 2030 um drei Milliarden wachsen. Wir wollen, dass diese immer wohlhabenderen Verbraucher weltweit nicht nur einen Audi fahren und mit einem Airbus fliegen, sondern auch in Räumen arbeiten, die von britischen und deutschen Architekten entworfen wurden, internationale Geschäfte über unsere Anwaltskanzleien abwickeln und diese Geschäfte über London und Frankfurt finanzieren.

Das ist einer der Gründe, warum wir absolut gegen die geplante Finanztransaktionssteuer sind. Und warum wir die geplante Obergrenze für Banker-Boni für bedenklich halten. Nicht etwa, weil wir nicht fänden, dass die globale Finanzwirtschaft bessere Regeln braucht – das tut sie, und die britische Regierung ist stolz darauf, dass sie auf der Grundlage des Vickers Report sehr weit gehende Reformen in Kraft setzt. Aber solche Regeln müssen uns helfen, im globalen Wettlauf mitzuhalten, sie dürfen kein Klotz am Bein sein.

Finanz- und Unternehmensdienstleistungen haben einen Anteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt von 4,4 Prozent. In Deutschland beschäftigt der Sektor fast 2,2 Millionen, in Großbritannien 2,1 Millionen Menschen. Europaweit sichern Finanz- und Unternehmensdienstleistungen fast 11,5 Millionen Arbeitsplätze. Und der globale Markt wächst rapide. Wir brauchen nur zuzugreifen. Wenn wir unsere Wirtschaft aber durch unternehmensfeindliche Regeln strangulieren, können wir sicher sein, dass Singapur, Dubai und New York nur darauf warten, sich diese Torheit zunutze zu machen.

Finanzdienstleistungen sind eine Stütze unserer übrigen Volkswirtschaft. Wenn wir unseren Finanzinstituten übermäßige Vorschriften aufzwingen, drehen wir unseren Unternehmen den Kredithahn zu. Wenn wir Transaktionen besteuern, wird es für die Unternehmen teurer, sich gegen Risiken abzusichern, wie es große Unternehmen wie Bayer und Siemens täglich tun müssen. Letzten Endes behindern wir die Wirtschaft generell – nicht nur die Banken, sondern alles, was wir herstellen, bauen oder verkaufen.

Und wenn wir dann noch durch unsinnige Regeln dafür sorgen, dass Banker oder Pensionsfonds-Manager statt der Boni, die von ihrer Leistung abhängig sind, einfach höhere Gehälter bekommen, dann schaffen wir nur wieder die Art von absurden Anreizen, die wir eigentlich abschaffen wollten.

Die zweite große Herausforderung lautet: wie sorgen wir für mehr demokratische Legitimation in der Europäischen Union.

Ein Wort zu Großbritannien.

Ich denke, die Briten würden zustimmen, dass wir effektive Institutionen brauchen, die den Binnenmarkt schützen, damit die Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen in Europa die gleichen sind.

Sie wollen, dass dieser Markt ausgebaut wird, damit europäische Firmen an 500 Millionen Verbraucher verkaufen können, und damit diese Verbraucher aus einem größeren Angebot auswählen können.

Sie wissen die Rolle der EU bei der Förderung von Stabilität und Wohlstand auf dem westlichen Balkan und in unseren Nachbarländer zu schätzen – hier haben Großbritannien und Deutschland eng zusammengearbeitet. Ich komme gerade aus Kroatien, das wir demnächst in der EU begrüßen werden, und Serbien, das möglicherweise bald Beitrittsverhandlungen aufnimmt, und konnte mir selbst ein Bild von diesen Fortschritten machen.

Ich denke, die Briten wünschen sich die EU auch als Multiplikator unseres kollektiven Einflusses und unserer Werte in der Welt, damit wir Handelsabkommen vereinbaren können, die uns neue Märkte erschließen, damit wir die Armut auf der Welt mindern, und damit wir dafür sorgen können, dass das iranische Regime, wenn es Atomwaffen verbreitet, echte Konsequenzen zu spüren bekommt.

Aber sie verstehen nicht, warum Brüssel mit bestimmen muss, wie lange Assistenzärzte arbeiten dürfen. Und warum ein Angehöriger eines anderen EU-Lands auch nach seiner Rückkehr in die Heimat weiter Leistungen in Großbritannien in Anspruch nehmen kann. Wir sind wohl alle erleichtert darüber, dass die Europäische Kommission kein europaweites Verbot von Olivenöl-Karaffen auf Restauranttischen erlassen wird. Aber es ist erstaunlich, dass die EU überhaupt über eine solche Frage zu entscheiden hat.

Allzu häufig haben die Briten den Eindruck, dass Europa etwas ist, was ihnen geschieht, etwas, wo sie nicht genug mitreden können. Dass die EU gern das Wort ergreift, aber kein Interesse hat zuzuhören. Dass die EU manchmal eher das Problem als die Lösung ist.

Das ist nicht nur in Großbritannien ein Thema.

Das Ergebnis einer Pew-Umfrage Anfang dieses Monats sollte uns eine Warnung sein: auf dem ganzen Kontinent ist die Unterstützung für die EU deutlich zurückgegangen. In Deutschland um 8 Punkte, auf 60 Prozent. In Großbritannien um 2 Punkte, auf 43 Prozent. In Frankreich um 19 Punkte, auf 41 Prozent.

Dieser Rückgang ist bei jungen Leuten, die traditionell eigentlich EU-freundlicher sind als ihre Eltern und Großeltern, noch drastischer.

Das Vertrauen in die Institutionen ist auf einem Allzeit-Tief. Die EU steckt in einer Legitimationskrise.

Dieses Problem werden wir meines Erachtens aber nicht dadurch lösen können, dass das Europäische Parlament mehr Befugnisse erhält, oder dass wir versuchen, einen europäischen Demos zu schaffen – solche Versuche sind zum Scheitern verurteilt.

Die Wahlbeteiligung ist überall in der Union von Mal zu Mal weiter abgesackt auf ein Rekordtief, und das trotz der Tatsache, dass die Befugnisse des Parlaments in den letzten 30 Jahren bei allen größeren Änderungen der Verträge immer weiter ausgebaut worden sind.

Das Europäische Parlament spielt eine wichtige Rolle dabei, die europäischen Institutionen zur Rechenschaft zu ziehen. Und wie es gerade bei der Reform der gemeinsamen Fischereipolitik zusammen mit Kommissarin Damanaki gezeigt hat, kann es eine sehr positive Rolle spielen. Aber wenn die Antwort auf die Frage nach der demokratischen Legitimation beim Europäischen Parlament läge, dann würden wir sie nicht immer noch stellen.

Ich meine vielmehr, die Lösung liegt darin, die Rolle der nationalen Institutionen in den europäischen Entscheidungsprozessen zu stärken, denn letztlich sind es doch die nationalen Regierungen und Parlamente, die den Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig sind und die die Hebel der Demokratie sind, mit denen unsere Bürger umzugehen wissen. Ich werde gleich noch etwas dazu sagen, wie das gehen könnte.

Und mit der Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen der nationalen und der europäischen Entscheidungsebene und den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität komme ich nun zur dritten zentralen Herausforderung: wie können wir eine Europäische Union schaffen, die die Vielfalt ihrer Mitgliedstaaten anerkennt und respektiert? Und die zulässt, dass unsere nationalen Herangehensweisen und unsere Erwartungen an die Europäische Union manchmal sehr unterschiedlich sind?

Damit meine ich aber nicht unbedingt das klassische Vorgehen eines Opt-out hier oder eines Opt-in da – sondern eher etwas Grundlegenderes.

Ich denke z.B. daran, dass die Eurozone sich beim Aufbau der Institutionen, die zur Überwindung ihrer Probleme nötig wären, u.U. stärker integrieren müsste, als es manchen Mitgliedstaaten der EU jemals lieb wäre.

Dass gleichzeitig einige Mitgliedstaaten vielleicht gerne zu einer verstärkten Kooperation kommen würden, wie wir sie beim einheitlichen Patentgericht erreicht haben, und wie einige sie auch bei der Finanztransaktionssteuer haben möchten.

Letztlich soll die EU dabei aber ein inklusiver Club bleiben, der sich auf die vier Freiheiten und auf den Binnenmarkt stützt – etwas, das im Interesse aller EU-Mitgliedstaaten ist, der Euroländer ebenso wie der Nichteuroländer.

Das sind relativ neue Konzepte. Wir haben noch keine Antworten. Aber wir müssen anfangen, uns die richtigen Fragen zu stellen, als Partner eines gemeinsamen Projekts.

Ich weiß, dass unsere Freunde in Deutschland und überall auf dem Kontinent die lebhafte Europa-Debatte, die wir in Großbritannien führen, aufmerksam verfolgen. Man muss ihnen vielleicht nachsehen, dass sie sich gelegentlich fragen, wie ernst es Großbritannien mit seinem Bekenntnis zum Funktionieren der Europäischen Union eigentlich ist.

Aber der Premierminister hätte es in seiner Rede im Januar nicht klarer ausdrücken können, als er sagte, den britischen Interessen sei am besten gedient in einer flexiblen, anpassungsfähigen und offenen Europäischen Union.

Und dass eine solche Europäische Union am besten sei, wenn Großbritannien dazu gehöre.

Und dass er sich mit Leib und Seele für eine solche Regelung einsetzen werde.

Deshalb wollen wir jetzt damit vorankommen, die EU entsprechend zu reformieren.

Und an diesem Punkt müssen Großbritannien und Deutschland die Führung übernehmen.

Mir ist klar, dass Deutschland in dem Bemühen, in der Eurozone für Stabilität zu sorgen, mit schwierigen und langfristig enorm bedeutsamen Herausforderungen konfrontiert ist. Die Entscheidungen, die Sie in den nächsten paar Jahren hier zu treffen haben, sind genau so fundamental wie die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.

Nach meiner Überzeugung sind die Herausforderungen, die wir erkannt haben – also Wettbewerbs-fähigkeit, Rechenschaftspflicht und Flexibilität – für das europäische Projekt genau so entscheidend wie die Suche nach dem richtigen Modell für die Wirtschaftsregierung der Eurozone. Dies sind keine konkurrierenden Agenden, sondern einander ergänzende, und das haben beide unsere Länder im Laufe der letzten 12 Monate besser verstehen gelernt, denke ich.

Ich möchte vier Bereiche skizzieren, auf die wir uns meines Erachtens konzentrieren sollten:

Erstens, die Vertiefung des Binnenmarktes, damit wir aus den Chancen, die sich in den Bereichen Digitalwirtschaft, Energieversorgung und Dienstleistungen auftun, den größten Nutzen ziehen können.

Die Entwicklung eines digitalen Binnenmarktes könnte das BIP der EU bis 2020 um 4% steigern. Prognosen zufolge wird sich der europäische e-Handel bis Ende 2016 fast verdoppeln und einen Wert von €°625 Mrd. erreichen.

Im Energiesektor müssen wir noch mehr tun, um auf dem gesamten Binnenmarkt für mehr Wettbewerb zu sorgen. Wir sollten die Gas- und Strommärkte liberalisieren, neue CO2-arme Energiequellen und Versorgungswege erschließen und die Verbindungen zwischen den Ländern stärken, um den EU-weiten Handel mit sauberer, CO2-armer Elektrizität zu ermöglichen. Preiswertere Energie wäre für britische und deutsche Unternehmen gleichermaßen von Vorteil.

Bei den Dienstleistungen müssen wir als erstes für die vollständige Umsetzung der Dienstleistungs-richtlinie in allen EU-Mitgliedstaaten sorgen. Die Europäische Kommission hat letztes Jahr geschätzt, dass das EU-BIP allein durch eine Umsetzung der Richtlinie in allen Mitgliedstaaten zumindest auf dem derzeitigen Durchschnittsniveau um 0,4% steigen würde. Eine vollständige Umsetzung der Richtlinie könnte sogar 2,6% mehr bringen.

Zweitens, dafür sorgen, dass die Regulierung die Unternehmen unterstützt und nicht ausbremst

Hierzu befragen wir die Unternehmen, welche Vorschläge zur Verringerung der Regulierungslast sie von der Kommission erwarten – wo es Ausnahmen für KMUs geben müsste, welche Vorschriften vereinfacht werden müssten und wo die Regulierung ganz wegfallen sollte. Wir freuen uns darauf, in dieser Hinsicht mit Deutschland und anderen Partnern auszuloten, wo gemeinsame Prioritäten liegen.

Drittens, der Aufbau neuer Handelsbeziehungen.

Der Abschluss aller bereits laufenden und der möglichen weiteren Freihandelsabkommen könnte eine Steigerung des BIP der EU um 2% bewirken. Deutschland und Großbritannien haben im vergangenen Jahr viel dafür getan, die Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft (TTIP) mit den USA als vordringliche Aufgabe zu behandeln. Sie würde in der Europäischen Union €°119 Mrd. und in den USA €°95 Mrd. pro Jahr einbringen. Noch wichtiger aber ist, dass Europa und die USA, die zusammen für fast die Hälfte des weltweiten BIP und fast ein Drittel der weltweiten Handelsströme stehen, noch auf Jahrzehnte hinaus die internationalen Handelsstandards gestalten könnten.

Deshalb ist es wichtig, dass wir die Chance nutzen und nächsten Monat, wenn Präsident Obama zum G8-Gipfel nach Nordirland kommt, ambitionierte Verhandlungen in Gang setzen. Und wir sollten das Potenzial dieser Verhandlungen nicht dadurch einschränken, dass wir bestimmte Branchen von vornherein ausschließen. Beim Bereich Audio-Vision z.B. sollten wir zuversichtlich auf die Chancen schauen, die uns der amerikanische Markt mit seinem Volumen von €°400 Mrd. und seiner jährlichen Wachstumsrate von 5% bietet.

Viertens müssen wir anfangen, die EU demokratischer zu machen

Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, zumal unser Europa-Staatsminister David Lidington diesen Monat in seiner Rede beim Europaforum in Berlin schon einige Ideen vorgetragen hat. Aber nach meiner Überzeugung müssen wir akzeptieren, dass die meisten Bürger in ganz Europa sich eher auf ihre nationalen Institutionen verlassen. Wir müssen die Rolle der nationalen Regierungen und der nationalen Parlamente wiederentdecken. Denn wie Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich deutlich gemacht hat, bemisst sich der Wert Europas nicht an einem Zuwachs des acquis communautaire.

Ein Bereich, in dem wir bedeutende Fortschritte gemacht haben, ist die Gemeinsame Fischereipolitik. Hier sind wir dabei, uns darauf zu verständigen, dass Gruppen von Mitgliedstaaten, und nicht die Kommission, ihre Küstengewässer managen sollten, weil eine Dezentralisierung Sinn macht. Das wäre eine große Leistung, aber es hat auch lange gedauert, so weit zu kommen, denn die EU ist sehr gut im Zentralisieren, verfügt aber anders als Großbritannien und Deutschland nicht über Mechanismen zur Dezentralisierung, also zur Übertragung von Befugnissen auch nach unten. Solche Mechanismen brauchen wir aber dringend. Ja, ich bin sogar der Überzeugung, dass die EU ohne sie demokratisch nicht tragfähig ist.

In Großbritannien beschäftigen wir uns mit der Verteilung der Kompetenzen zwischen der EU und der nationalen Ebene. Wir möchten mit dieser Arbeit zu einer sachlichen und ernsthaften Debatte in Großbritannien beitragen. Und wir hoffen, dass sie auch für unsere europäischen Partner von Interesse sein wird, da auch in anderen Mitgliedstaaten ähnliche Debatten geführt werden.

Gleichzeitig sollten wir mehr dafür tun, dass unsere Parlamente ihr Recht auf Zusammenarbeit wahrnehmen und Europa gemeinsam die Gelbe Karte zeigen können, um zu verhindern, dass die EU Bereiche regelt, die gemäß dem Prinzip der Subsidiarität besser auf nationaler Ebene geregelt werden sollten. Wir sollten prüfen, ob das Gelbe-Karte-Verfahren gestärkt oder ausgedehnt werden könnte, damit unsere Parlamente das Recht erhalten, die Kommission aufzufordern, bei vorgesehenen Rechtsakten ganz von vorne zu beginnen, wenn sie eine allzu große Einmischung darstellen oder den Verhältnismäßigkeitstest nicht bestehen. Wir sollten vielleicht sogar noch weiter gehen und über eine Rote Karte nachdenken, die den nationalen Parlamenten das Recht geben würde, Gesetzesvorhaben der EU zu blockieren, wenn eine Rechtsetzung auf europäischer Ebene nicht notwendig ist.

Die große Herausforderung für die deutsche und die britische Diplomatie wird in den nächsten paar Jahren darin liegen, das richtige Verhältnis zu finden zwischen europäischer Integration da, wo sie erforderlich ist, und Flexibilität da, wo sie für unsere Volkswirtschaften und unsere Demokratien am besten ist. Und in diesem Prozess der Modernisierung unserer Wirtschaft und unserer Staaten auch die Wähler mitzunehmen, das ist die große Herausforderung für die Politiker beider Länder.

Je enger wir zusammenarbeiten, desto besser wird es uns gelingen, eine Europäische Union zu schaffen, die fit ist für das 21. Jahrhundert und der die Menschen in ganz Europa und anderswo in der Welt wirklich vertrauen können.

Veröffentlicht am 31 May 2013