Weltnachrichten Geschichte

Rede von Prinz Charles im Bundestag, Berlin:15. November 2020

Rede des Prinzen von Wales bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Bundestag

The Prince of Wales

Die Rede wurde teilweise in Englisch und teilweise in Deutsch gehalten, hier die Rede im deutschen Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, eingeladen worden zu sein, bei diesem feierlichen und besonderen Anlass heute zu sprechen, und gemeinsam mit Ihnen aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. Es erfüllt meine Frau und mich mit großem Stolz, in diesem denkwürdigen Jahr, in dem wir fünfundsiebzig Jahre Frieden und Freundschaft feiern dürfen, wieder einmal nach Deutschland zu kommen und die starken Bande zwischen unseren beiden Ländern zu erneuern.

Seit ich gerade einmal 13 Jahre alt war, bin ich immer wieder nach Deutschland gekommen, und Berlin habe ich erstmals vor fast fünfzig Jahren besucht. Im Laufe der Jahrzehnte ist mir immer wieder aufgefallen, auf welch vielfältige Weise diese bemerkenswerte Stadt so viel von der Geschichte unseres Kontinents und allem, was wir durchlebt haben, verkörpert. Die Verheerungen des Krieges und die Tragödie der Teilung hat Berlin nicht nur durchgestanden, sondern darüber triumphiert; befreit von falschen und verzerrten Ideologien konnten sich Hoffnung und der menschliche Geist durchsetzen.

Berlin erinnert uns daran, dass die Schicksale aller Europäer seit Jahrhunderten ineinander verflochten sind. Unsere heutigen Beziehungen stützen sich auf Fundamente, die tief in das Grundgestein unserer gemeinsamen Erfahrung gegraben wurden und durch Streben verankert sind, die nach Nord und Süd, nach Ost und West verlaufen, quer durch unsere vielfältigen Gemeinschaften und über unsere Grenzen hinweg.

Die Verbindungen zwischen der britischen und der deutschen Bevölkerung reichen zurück bis mindestens ins Römische Reich. Sie entwickelten sich in einer gemeinsamen Zivilisation weiter, bildeten im Lauf der Jahre ein Gewebe hin- und herverlaufender Fäden. Für viele von uns sind diese Verbindungen persönlicher Natur, wir haben familiäre Bindungen und Beziehungen, die uns auch heute noch lieb und teuer sind.

Unsere Bevölkerungen haben voneinander profitiert, seit mit der Hanse eine Handelspartnerschaft begründet wurde, die auch weiterhin unserem beiderseitigen Wohlstand dient. Doch war das Verhältnis zwischen uns immer viel mehr als ein rein geschäftliches. Wir betrachten einander seit langem mit einer gewissen Faszination, bewundern die Kultur der Anderen und lassen uns von ihren Ideen inspirieren. Wir haben einander beeinflusst und voneinander geborgt, in einem Circulus virtuosus von Verbindungen, die unser beider Länder gestärkt und bereichert haben.

Dafür gibt es unzählige Beispiele. Ein Deutscher, Hans Holbein der Jüngere, war der erste gefeierte Künstler in England. Ein halbes Jahrhundert später wurde Deutsch zur ersten Sprache, in die Shakespeare übersetzt wurde. Der englische Landschaftsgarten wurde von Fürst Leopold III. von Anhalt-Dessau nach Deutschland gebracht. Inspiriert von den Vorbildern in Stourhead und Stowe legte er den herrlichen Park von Wörlitz an, dessen stolzer Schirmherr ich bin. Wie die britische musikalische Tradition ohne den Einfluss von Bach, Beethoven oder Brahms aussehen würde, lässt sich schwer vorstellen; und die Musik von Georg Friedrich Händel, der als Deutscher geboren wurde, aber als Brite starb, wurde bei der Krönung jedes britischen Monarchen seit der meines 7-maligen Urgroßvaters König Georg II. aufgeführt.

Während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts wurde das britische Leben in Wissenschaft und Kunst von deutschen Gedanken geprägt, teilweise auch dank der führenden Rolle meines Urururgroßvaters, des Prinzgemahls Prinz Albert. Deutsch war für britische Akademiker eine überaus wichtige Fremdsprache in Zeiten, in denen die deutsche Einwanderung nach Großbritannien deutlich zunahm und die Handelsbank Schroders und die Nachrichtenagentur Reuters zur Gestaltung der globalen Rolle Londons beitrugen. Es war gar nicht so ungewöhnlich, wie es vielleicht heute scheinen mag, dass bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vier Mitglieder des britischen Kabinetts an deutschen Universitäten studiert hatten. Und erstaunlicherweise strömten in den Jahren nach diesem Krieg britische Studenten erneut nach Deutschland, um deutsche Kultur zu erleben – eine Erfahrung, die sie und ihre Eltern als unverzichtbar für ihre Bildung betrachteten.

Blickt man durch das Prisma der beiden Weltkriege zurück, so zeigt sich, dass durch die grausamen Verwerfungen, die die Konflikte und Verluste nach sich zogen, viele dieser engen Verbindungen zwischen Großbritannien und Deutschland überschattet wurden. Und doch: als unsere Länder und unsere Menschen sich an die schwierige Aufgabe machten, diesen Kontinent – und unser gegenseitiges Vertrauen – wiederaufzubauen, konnten sie aus einer tiefen und historischen Quelle gemeinsamer Erfahrungen schöpfen, so dass die Saat der Versöhnung aufgehen und zur Blüte reifen konnte.

Und so haben unsere beiden Länder in den letzten fünfundsiebzig Jahren wieder zu ihrer natürlichen Beziehung als Verbündete und Freunde zurückgefunden. Großbritannien stand in diesen außergewöhnlichen Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg an der Seite Deutschlands. Wir haben mit großer Bewunderung den bemerkenswerten Erfolg der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands in den letzten dreißig Jahren beobachtet, mit tiefem Respekt für das Beispiel, das Deutschland der Welt gegeben hat.

Heute stehen unsere Länder als unverzichtbare Partner in fast allen denkbaren Bereichen zusammen, im Bewusstsein unserer Vergangenheit, aber voller Zuversicht, was die Zukunft angeht. Lassen Sie uns im Sinne der Inschrift auf dem Kranz, den Sie, Herr Bundespräsident, diese Woche vor zwei Jahren am Ehrenmal in London niederlegten, „Seite an Seite gedenken, dankbar für Versöhnung, hoffnungsvoll für eine Zukunft in Frieden und Freundschaft“.

Versöhnung ist ein schwieriger, aber unverzichtbarer Prozess, wie ich überall auf der Welt und auch auf den Inseln meines eigenen Landes beobachten konnte. Dass wir auf unserem Kontinent so viel Spaltung überwinden konnten, gibt Anlass zu steter Dankbarkeit und tiefem Stolz. Dennoch: so dankbar wir auch für das Erreichte sein sollten – werden viele von Ihnen sicherlich meine Ansicht teilen, dass wir nichts als selbstverständlich erachten dürfen.

Wir werden uns niemals mit den Schrecknissen der Vergangenheit versöhnen können, indem wir sie schlicht als Ereignisse eines anderen Zeitalters abtun – als etwas Zurückliegendes, Zeitgebundenes, das mit unserem gegenwärtigen Leben nichts zu tun hat. Auch sollte keiner von uns glauben, diese Last ruhe auf anderen Schultern. Vielmehr entspringt aus der tiefgreifenden Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart – und die Zukunft – eine tiefe, gemeinsame Verantwortung dafür zu sorgen, dass alle künftigen Generationen die schmerzvollen Lektionen lernen und beherzigen.

Der ehemalige Großrabbiner des Vereinigten Königreichs, Rabbi Lord Sacks, der Anfang dieses Monats tragischerweise von uns schied, schrieb, dass „eine Zukunft der Versöhnung – zumindest zu einem gewissen Maße – die Vergangenheit rückwirkend tilgen kann“. Er hatte natürlich völlig recht. Sonst verschlimmern wir nicht nur vergangene Verfehlungen und verstärken ihre Wirkung, sondern enttäuschen auch all jene, die für eine bessere Zukunft gekämpft und dafür ihr Leben gelassen haben.

In dieser Sache müssen wir zusammenarbeiten. Wir müssen wachsam bleiben angesichts von Bedrohungen für unsere Werte und Freiheiten; und müssen uns unermüdlich für gegenseitiges Verständnis und Respekt einsetzen. Gegen Akte unsagbarer Grausamkeit gegen Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Überzeugungen müssen wir, wo auch immer sie auf der Welt geschehen, entschieden vorgehen. Wir müssen zusammenstehen, um die Zukunft, die wir unseren Kindern und Kindeskindern schulden, entschlossen zu verteidigen.

Die Herausforderungen für diese Zukunft sind offenkundig – sei es diese entsetzliche Pandemie, die nicht nur eine Bedrohung für unsere öffentliche Gesundheit darstellt, sondern auch für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit; oder die existentielle Bedrohung für unseren Planeten und unsere Lebensweise, durch den Klimawandel und den katastrophalen Verlust von Biodiversität.

Diese Krisen rufen uns dazu auf, gemeinsam zu handeln, und die Partnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland bietet uns in dieser Hinsicht eine wichtige Chance. Wir sind so sehr in die Zukunft des jeweils anderen Landes eingebunden, dass unsere nationalen Interessen – auch wenn sie unterschiedlich sein mögen – immer miteinander verflochten sein werden.

Unsere beiden Länder sind instinktive Problemlöser, die gemeinsam an innovativen und praktischen Lösungen für die Herausforderungen arbeiten, mit denen wir uns auf der Welt konfrontiert sehen – die Weltgesundheit und die Impfstoffentwicklung, sauberes Wachstum und erneuerbare Energien, den Schutz der Wälder und der Biodiversität, und Klimaschutz in Entwicklungsländern. Gemeinsam verteidigen wir entschlossen die Werte, die wir teilen, als Verfechter der Menschenrechte und der regelbasierten internationalen Ordnung. Gemeinsam sind wir eine unverzichtbare Kraft für das Gute in der Welt.

Der englische Dichter John Donne schrieb die berühmten Zeilen „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“ Man könnte ebenso sagen, dass auch kein Land wirklich eine Insel ist, außer im rein wörtlichen Sinne. Unsere Geschichte verbindet uns eng miteinander, und unsere Schicksale – obschon wir sie selbst bestimmen können – sind in erheblichem Maße voneinander abhängig.

Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren!

Das Vereinigte Königreich hat sich für eine Zukunft außerhalb der Europäischen Union entschieden, und die Beziehung zwischen unseren Ländern verändert sich aufs Neue. Die Gestaltung dieser Beziehung ist Gegenstand von Verhandlungen zwischen unseren Regierungen, und ihr Wesen wird durch die anhaltenden Verbindungen zwischen unseren Völkern bestimmt. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass die zentralen Bande zwischen uns stark bleiben werden: Wir werden immer Freunde, Partner und Verbündete sein.

Lassen Sie uns diese Bande zu Beginn dieses neuen Kapitels in unserer langen Geschichte für die bevorstehenden Jahre festigen. Lassen Sie uns zurückblicken auf alles, was wir gemeinsam bewältigt, und all das, was wir gelernt haben. Lassen Sie uns aller Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Verfolgung gedenken; jener, die ihr Leben hingaben für die Freiheiten, die wir heute schätzen, und jener, die bis heute für diese Freiheiten kämpfen. Sie inspirieren uns, für eine bessere Zukunft zu streiten – lassen Sie uns dies zu unserem gemeinsamen Anliegen machen.

Veröffentlicht am 15 November 2020